Leseprobe aus meinem dritten Roman mit dem Titel "Dr. Feist im Fegefeuer".
1
Lange hatte er mit sich gekämpft. Er war nicht mehr der Jüngste.
Lange hatte er an dem Sinn einer solchen Tat gezweifelt.
Einfach so tötet man niemanden.
Schließlich hatte er eine Münze geworfen: Kopf oder Zahl. Bei Zahl keine weiteren Überlegungen. Den Kopf waschen, ausschütteln, den dunklen Gedanken zu Flügeln verhelfen, zum Fliegen, Wegfliegen. Gedanken sind frei, aber nicht folgenlos. Tabula rasa.
Er wartete auf Zahl – vergeblich.
Anfangs hatte er daran gedacht, einen Auftragskiller für seine Zwecke zu gewinnen, einen Profi, der gut auf seinem Gebiet war und nicht Kopf und Kragen riskieren musste. Er hatte einen Freund, einen Journalisten, der über Profikiller recherchierte. Der hatte ihn mit einem Freiberufler bekannt gemacht, der Menschen im Auftrag der Drogenmafia umgebracht hatte, aber auch Terroristen vom Schlage der Al-Quaida oder Spione, die für den syrischen Geheimdienst gearbeitet hatten. Pascale, der Sizilianer.
Der Typ, Profikiller, sah sehr sympathisch aus: gelockte dunkelblonde Haare, leicht gebogene Nase, fast engelhaftes, makelloses Gesicht. Hypnotische smaragdgrüne Augen, die wie geheimnisvolle Kristalle funkelten, rätselhaft schön und irgendwie auch beunruhigend. Grüne Augen und dunkelblonde Haare! Die hatte ihm wahrscheinlich ein keltischer oder normannischer Vorfahre vererbt. Grüne Augen, faszinierend. Sie hatten etwas Sinnlich-Dämonisches. Pascale – der ideale Vollstrecker?
Aber er hatte sich von diesem Gedanken distanziert, Pascale zu engagieren, und die geplante Tat zu etwas Privatem bestimmt. Das war eine persönliche Angelegenheit zwischen ihm und dem Opfer. Obwohl das unsinnig war, da sie sich überhaupt nicht kannten und noch nie nahe gekommen waren. Es war mehr eine gefühlte Nähe zu dem Mann, dem er das Leben nehmen würde. Er handelte nach keiner Formel des Bösen, sondern aus dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Schließlich war Gerechtigkeit ein rares Gut, das es zu schützen galt. Er wusste, dass ihn Fachleute als Psychopathen bezeichnen und von der Tat eines Wahnsinnigen sprechen würden, war sie einmal geschehen. Aber das war falsch.
Aber tragen wir nicht alle Anlagen von Psychopathie in uns? Bausteine des Bösen? Und war der Wahnsinn nicht ein Teil dieser Welt?
Was er plante, war jedoch weit weg, als ob es nicht zu ihm gehörte. Deshalb fiel es ihm auch leicht, seinen Plan in Angriff zu nehmen.
Natürlich war das Leid des Opfers und seiner Angehörigen, das er erzeugen würde, ungerecht und abscheulich. Deshalb empfand er auch Mitgefühl für die Familie des Mannes, den er töten wollte. Psychopathen haben kein Mitgefühl oder nur ein ganz geringes. Deshalb bestand er auch stets darauf, dass er ein guter Mensch sei. Doch wie man es auch drehte und wendete, er war dafür verantwortlich, dass der Ministerpräsident an diesem Tag dem apokalyptischen Reiter begegnen würde.
Samstag, der 18. September. Die Stunde der Wahrheit. Einer dunklen Wahrheit.
Weiße Zuckerwatte benetzte den blauen Himmel, aus dem immer wieder die Sonne lachte. Der Sommer hatte sein wärmstes Kleid abgeworfen. Der Herbst kündigte sich mit milden Temperaturen und bunten Farben an. Erste Rottöne hatten sich mit grünen Farben gemischt. Das Thermometer zeigte zwanzig Grad. Die Menschen suchten Parks und große Plätze auf. Einige von ihnen pilgerten um die Mittagszeit in den Osten der Stadt, in die Bunt-Blumen-Straße, wo der Amtssitz des Ministerpräsidenten lag.
Vor dem schmiedeeisernen Tor mit der Nummer 15 wurden sie von einem Transparent begrüßt: Herzlich willkommen in der Villa Hasenstein.
Mannschaftswagen der Polizei fuhren in den Seitenstraßen vor. Menschengruppen schoben auf den Eingang zu und warteten darauf, eingelassenen zu werden. Pünktlich um zwölf öffneten sich die Tore zum Amtssitz von Dr. Johannes Feist. Bürgergespräch und Tag der offenen Tür im Staatsministerium. Der pausbackige Landesvater hatte eingeladen.
Es herrschte eine Stimmung wie auf dem Jahrmarkt. Stimmengewirr. Gelächter. Allein die Verkäufer und Gaukler, die das Volk mit Kunststücken unterhielten, Bänkellieder sangen oder Waren feilboten, fehlten. Die Besucher, die kamen, verehrten Feist bedingungslos oder lehnten seine Politik strikt ab.
Wer hinhören wollte, vernahm einen Jahrmarkt der Gegensätze: Da waren die, die Feist bedingungslos verehrten oder die, die seine Politik strikt ablehnten. Mittendrin aber auch die, die einfach neugierig waren auf die politische Reizfigur. Sie wollten den Südwest-Napoleon einmal aus der Nähe erleben. Und hatten nicht auch die Oppositionspolitiker recht, die ihn in die Nähe von Franz-Josef Strauß rückten?
Entsetzen bei kleinlichen Historikern, dass politische Gegner Feist einen Napoleon genannt hatten. Weder besitze Feist das Talent zum Feldherrn und Menschenschlächter, noch hätte er versucht, Europa neu zu ordnen oder ein modernes Zivilrecht einzuführen, argumentierten sie. Auch der Vergleich mit Franz Josef Strauß hinke gewaltig, Strauß sei intelligent gewesen, ein Mythos mit ungeklärten Finanzen und zahlreichen Affären, ein bayrischer Säulenheiliger. Feist erwecke im Gegensatz zu Strauss den Eindruck, dass Ehrgeiz den Verstand lähmt.
Der Tag der offenen Tür in der Villa Hasenstein – wahrhaftig ein Jahrmarkt der Gegensätze. Denn inzwischen war das dramatische Konzert um den neuen Rossstädter Bahnhof auf den grünen Hügel getragen worden. Die da in Gruppen kamen, waren nicht nur Gegner und Freunde des Hügelhausherrn, sondern auch konzertante Rossstadt 21-Anhänger und K 21-Befürworter. Die einen wollten den Rossstädter Hauptbahnhof in die Erde versenken, die anderen den in die Jahre gekommenen Kopfbahnhof oben lassen, nur schöner, moderner, stimmiger.
Kein Gedränge inmitten der Schlangen. Überall geduldige Besucher. Ein Kompliment auch an Polizei und Sicherheitskräfte: Alles lief geordnet ab. Das Sicherheitspersonal bemühte sich, die Gruppen zügig einzulassen. Die Stimmung unter den rund 2000 Gästen, die an diesem Tag die Sicherheitsschleusen mit Metalldetektoren gleich hinter dem Haupteingang passierten, blieb nahezu ungetrübt. Arme und Beine wurden bereitwillig gespreizt und sorgfältig abgetastet. Smartphone, Handys und Schlüssel wurden wie auf dem Flughafen brav in graue Plastikwannen gelegt. Kontrollgeräte fiepten.
Der ältere Mann, der töten wollte, hatte sich in die Schlange vor dem Tor eingereiht und wartete darauf, eingelassen zu werden. Er trug blaue Jeans und eine braune Wildlederjacke. Darunter ein hellgrünes T-Shirt. Auf dem Kopf saß eine schwarze Ledermütze. Silberweiße Haarbüschel, die die Mütze nicht bändigen konnte, quollen über den großen Ohren hervor. Der Mann war etwa ein Meter achtzig groß und kräftig gebaut. Sein Alter war schwer einzuschätzen, es lag zwischen fünfzig und siebzig. Er wirkte leicht angespannt. Das kräftige Gesicht war gerötet. Die Sonnenbrille mit den runden dunklen Gläsern auf der Nase war nach unten gerutscht, sodass man die unruhigen blauen Augen erkennen konnte. Er schien sich unter den vielen Menschen nicht wohlzufühlen. Misstrauisch blickte er die Sicherheitsleute an, als er an die Schleuse trat. Zögernd leerte er seine Taschen. Portemonnaie, Schlüsselbund, Armbanduhr, Smartphone, Kugelschreiber und eine englische Einpfundmünze wanderten in die Plastikwanne vor ihm. Zu dem Beamten, der ihn abtastete, sagte er, er hasse dieses Fiepen. Der junge Mann lachte und sagte, auch ihm gehe das Fiepen der Abtastgeräte auf den Geist, aber er mache nur seinen Job. Sein Geist sei damit einverstanden.
„Ein Schelm, da wächst eine neue Spezies in Uniform heran“, murmelte der ältere Mann. Hastig sammelte er seine Habseligkeiten ein. Als er sie in Jacke und Hose verstaut hatte, entspannte sich sein Gesicht. Er hatte es geschafft. Er war im grünen Park der Villa Hasenstein. Er hatte das Heiligtum südwestländischer Macht betreten. Das Drama konnte beginnen. Er war bereit, zu töten. Es war das erste Mal, aber er wird es tun, um sich und seinen Sympathisanten Genugtuung zu verschaffen. Die Tat wird gute Gefühle erzeugen.
Der Park zeigte sich von seiner verschwenderischen und verführerischen Seite. Spät blühende Fuchsien, Krötenlilien und Silberkerzen grüßten die Besucher. Sträucher flüsterten geheime Botschaften. Blumenwiesen schmiegten sich kokett an Staudenbeeten. Hohe alte Bäume blickten stoisch auf das bunte Treiben herab. Der Geruch von frisch geschnittenem Grün vermischte sich mit den betörenden Düften von Blumen und Kräutern. Die Gärtner hatten den Park der Villa für den Tag der offenen Tür herausgeputzt, als ob der Frühling eingezogen wäre.
Der ältere Mann hatte jedoch keinen Blick für die Schönheit des Parks und keine Nase für seine betörenden Düfte. Zu sehr war er mit sich selbst beschäftigt. Langsam, fast zögernd schritt er den kurvenreichen Weg zur Villa hoch. Sein Atem ging schwer. Lag es an seinem untrainierten Körper oder an seiner Nervosität, dass ihm der Anstieg den Atem nahm? Er schaute den Weg zurück. Der grüne Hügel füllte sich weiter mit Menschen.
Mit einer fahrigen Bewegung schob er die Sonnenbrille auf der Nase nach oben und lüftete kurz die Mütze. Zögernd zog er die Jacke aus und hängte sie über die Schulter. Der Schweiß in den Achselhöhlen hatte die Ärmel des T-Shirts dunkel gefärbt. Während er langsam weiter ging, tupfte er mit einem großen weißen Stofftaschentuch Stirn und Hals ab.
Er spürte die Gefahr, in die er sich begab, aber er war eins mit ihr. Auch wenn er nervös war, so hatte er doch keine Angst. Sie war fort, fort wie die Zeit. Da war kein Intervall zwischen Plan und Handlung mehr, sondern nur noch der eine Gedanke, der alles bestimmte.
Ministerpräsident Johannes Feist regierte erst seit 100 Tagen im Südwesten der Republik. Sein Vorgänger Gottlieb Schnarringer war amtsmüde geworden und hatte abgedankt. Das hatte den Fraktionsvorsitzenden der Erzheiligenpartei (EHP) im Rossstädter Landtag, Johannes Feist, an die Macht gespült. Ein bisschen nachgeholfen hatte Bundeskanzlerin Adele Moll, der nachgesagt wurde, sie habe den Charme einer Teflonpfanne.
Teflon? Eine Journalistin hatte es so erklärt: „Die Wirklichkeit hinterlässt auf der beschichteten Oberfläche keine Spuren.“
Dass die rätselhafte Adele Moll, die gern Hosenanzüge trug, mit dem ‚Charme einer Teflonpfanne‘ gesegnet sein soll, wissen wir übrigens aus US-Geheimakten. Informationen aus diesen Akten waren dem Internetportal Chickimickileaks zugespielt worden. Dort stand wörtlich zu lesen: „Kanzlerin Adele Moll hat Südwestlands Ministerpräsidenten Gottlieb Schnarringer als EU-Kommissar für Energie nominiert, um eine ungeliebte lahme Ente von einer wichtigen Erzheiligenpartei-Bastion zu entfernen.“
Im Gegensatz zum geselligen Schnarringer, der Klavier spielte, eine lockere Zunge hatte, zu fortgeschrittener Stunde auch einmal einem Parteifreund ins Geschlecht kniff, war Feist ein hemdsärmeliger Sprücheklopfer. Ein bulliger Politiker, dem es Vergnügen bereitete, zu provozieren und zu spalten.
Schon sein Großvater Theobald Feist, ein Mann mit Prinzipien, nannte den zehnjährigen Johannes einen unerträglichen Charakter. Gut für Feist, dass nicht alle in seiner Nähe so viel Menschenkenntnis besaßen wie Opa Theobald. Als der pubertierende Feist einmal einen Klassenkameraden mobbte und Gerüchte über eine ungeliebte Lehrerin streute, sie sei ein Flittchen, sagte die Mutter beim Abendessen, Johannes habe das Talent zu einer Führungspersönlichkeit. Er werde sicherlich einmal Bankmanager oder Politiker. Daraufhin lief Opa Theobald im Gesicht rot an und wäre fast am Bissen seines Rostbratens erstickt.
Nahestehende Parteifreunde vermuteten, dass Feist im in seiner Entwicklung stehen geblieben war. Jedenfalls hätten sie bei ihm keinen moralischen Wachhund oder so etwas wie ein Gewissen feststellen können.
Das – so behaupteten wiederum Psychologen – sei nicht ungewöhnlich bei Politikern, Bankgorillas und Wirtschaftsbossen.
Aufgewachsen war der neue Chef in der Villa Hasenstein in kleinen Verhältnissen im zehn Kilometer von Säckelheim entfernten Mühlenberg im südlichen Schwarzwald. Der Vater hatte erst als Metzger und später als Versicherungsvertreter sein Geld verdient. Nach Abitur und Wehrdienst begann Johannes Feist eine Lehre als Versicherungskaufmann. Danach studierte er in Rossstadt Rechtswissenschaften.
Seine politische Karriere, die mit dem Eintritt bei den Jungen Erzheiligen begonnen hatte, vollzog sich in atemberaubendem Tempo. Mit dreiundzwanzig jüngster Gemeinderat in seiner Heimatgemeinde, Einzug in den Landtag, zwei Jahre später Staatssekretär, mit nicht einmal vierzig Minister.
Feist galt als Mann mit guten Kontakten zu den Strippenziehern der Erzheiligenpartei in der Bundeshauptstadt. Er war kein Mann des sanften Gemüts. Wenn ihm etwas nicht passte, explodierte er. Er schreckte auch nicht vor Attacken gegen die eigene Partei und der Bundesregierung zurück. Im Streit über längere Laufzeiten für Atomkraftwerke ging er die Kanzlerin an und forderte von ihr ein klares Signal für Atomstrom. Auf ihn konnte sich die Atomlobby voll verlassen.
Auffällig war, dass er sein politisches Handeln auch schon mal von ehemaligen politischen Weggefährten beeinflussen ließ. Das beste Beispiel für diese Art von Außensteuerung war der rechtswidrige Alleingang beim Rückkauf von südwestländischen Energiekonzern-Aktien aus französischen Händen zu überhöhtem Preis. Der Spezi, ein Investmentbanker, hatte das Geschäft eingefädelt und die Strippen gezogen. Per E-Mail und mit Smileys hatte er Feist wie eine Marionette zum Abschluss am Landtag vorbei gedrängt.
Anders als einige seiner Vorgänger im Amt hatte Feist jedoch die üblichen Affären bisher vermieden. Kein Segeltörn mit käuflichen Schönheiten auf Brasiliens Atlantik wie einer seiner Vorgänger im Amt. Keine Sexspäße mit glutäugigen Indiofrauen in schummrigen Bars in Rio de Janeiro. Keine Alkoholexzesse, kein Kokain in Hotels und auf Parlamentstoiletten. Nein, er begnügte sich mit dem Image des Biedermanns und guten Familienvaters.
Die Frau an seiner Seite, eine aufrechte Parteisoldatin, war ihm treu ergeben. First Lady Carla Feist galt als enge Beraterin ihres Mannes. Das Ehepaar hatte vier Töchter. Carlinchen, wie Feist seine Frau liebevoll nannte, hatte eine straffe Figur mit sanften Rundungen. Ihr durchschnittliches Gesicht verbarg den politischen Ehrgeiz, mit dem sie ihren Mann antrieb.
Obwohl Südwestlands Bürger froh waren, den tollpatschigen Schnarringer losgeworden zu sein, war Feist keineswegs beliebter als sein Vorgänger. Im Gegenteil. Eine Umfrage der Heimatzeitung ein paar Monate nach Feists Amtsantritt, schockierte den Ministerpräsidenten und seinen Stab. Die Zeitung wollte wissen, über was sich die Bürger in Feists Wohnort Säckelheim im abgelaufenen Jahr am meisten gefreut hatten.
Auf den ersten Platz kam die Abwahl der Oberbürgermeisterin, es folgten der Bau der öffentlichen Toilette auf dem Marktplatz, der Wettbewerb der Stadträte im Kirschkernweitspucken und der Weihnachtsschmuck in der Innenstadt, der wirklich glanzvoll war. Weit abgeschlagen, an letzter Stelle, kam das wichtigste politische Ereignis des Landes, dass nämlich Johannes Feist, der prominenteste Bürger der Gemeinde, vom Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt worden war.
Ein strenges Urteil über einen Mann, der sich selbst als Gegenentwurf zur Bundeskanzlerin Adele Moll sah – klar positioniert, konservativ, kantig und kompromisslos.
Heute am Tag der offenen Tür in der Villa Hasenstein gab sich Dr. Johannes Feist als jovialer Landesvater ohne die provokante Art, die er sonst zeigte. Zunächst jedenfalls. Er schüttelte Hände und begrüßte Freunde, ehemalige politische Weggefährten und Wähler, die ihm schmeichelten. Geschenke wurden ihm überreicht: ein Bierkrug, eine Flasche Champagner, eine aus Holz geschnitzte Figur mit goldener Krone, ein Teddybär. Dinge, die man nicht braucht oder bereits hat, aber trotzdem nimmt, weil sie Wertschätzung ausdrücken. Er sah sich umringt von Sympathie und strahlte wie ein Sonnenkönig. Doch das sollte sich ändern, als er den grünen Hügel zu seinem Amtssitz hoch ging.
Eine ältere grauhaarige Rossstadt 21-Gegnerin versperrte ihm den Weg. Sie trug einen lindgrünen Rock und eine schlammfarbene Wolljacke, an der ein Gegen-Rossstadt 21-Anstecker befestigt war. Aufgeregt und lautstark deckte sie den Ministerpräsidenten wegen des geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhofs in der Landeshauptstadt mit einem Wortschwall ein. Feist blieb gelassen stehen, beide Hände in den Hosentaschen vergraben. Er schien nicht überrascht über den verbalen Angriff auf eigenem Hoheitsgebiet zu sein. Den Mund leicht geöffnet musterten seine wachen Augen die hagere Gestalt vor ihm.
„Ich hätte gern gewusst, warum Sie sich als Ministerpräsident für ein Projekt entschieden haben, was zwei Drittel der Bevölkerung strikt ablehnen“, ereiferte sich die hagere grauhaarige Frau.
Auf die Größenangabe von zwei Dritteln, die nicht gerade bescheiden angesetzt war, ging Feist erst gar nicht ein, sondern argumentierte kühl wie ein Staatsrechtler: „Wir haben in unserer Verfassung eine repräsentative Demokratie, und dieses Projekt ist von Beginn an durch alle demokratischen Instanzen gegangen.“
Als er von lautstarken Protestrufen von Rossstadt 21-Gegnern unterbrochen wurde, deutete er auf die Schreier und sagte, während ein Anflug von Zorn über sein Gesicht huschte: „Das ist die Gegnerschaft von Rossstadt 21, keine Argumente, sondern nur Krawall.“ Entrüstet schüttelte er den Kopf.
„ Die Bevölkerung ist falsch oder gar nicht informiert worden. Alles Lug und Betrug“, entrüstete sich die Rossstadt 21-Gegnerin weiter.
Sie bebte am ganzen Körper. Ihre Augen funkelten. Die Adern an der Stirn traten hervor. Sie wusste, dass sie hier keine Schlacht gewinnen, geschweige denn den Ministerpräsidenten überzeugen konnte. Aber ihre Stimme sollte gehört werden, eine zornige Stimme. Die Stimme einer Wutbürgerin, wie die Medien behaupteten. Eine Stimme, die allerdings auch diesen Klang von Selbstgerechtigkeit hatte.
„Stimmt doch gar nicht!“, konterte Feist, nun ganz Wutpräsident. „Sie sind niemand, der mich belehren muss. In unserem Staat herrscht Legalität. Wir sind ein Rechtsstaat“, herrschte er die Frau vor ihm an.
Als ein Chor junger Leute höhnisch intonierte: „Oben bleiben, oben bleiben!“, machte der Wutpräsident eine verächtliche Handbewegung und ging zügig zur Villa hoch. Doch plötzlich überlegte er es sich anders, drehte sich ruckartig um und marschierte entschlossen zurück auf die ältere Frau zu, die ihm überrascht entgegenblickte. Er blieb vor ihr stehen, beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Begreifen Sie doch, gute Frau, nicht das Volk, sondern die politische Klasse ist der wahre Souverän. Die politische Elite, die an der Macht ist. Sie bestimmt, wo es lang geht. Ich bin an der Macht. Ich bin Ihr Ministerpräsident, verdammt noch mal. Wachen Sie endlich auf!“
„Ich bin für Sie keine gute Frau“, stammelte die grauhaarige Protestiererin hilflos, während Feist sich abrupt umdrehte und sie endgültig stehen ließ.
Im Kabinettssaal, wo sich achtzig Bürger versammelt hatten, plauderte der Ministerpräsident freudig bewegt über seine politischen Anfänge. Die Begegnung mit der älteren Frau hatte er verdrängt. Er erzählte, wie beeindruckt er gewesen war, als er als Mitglied der Jungen Erzheiligen erstmals diesen Saal betreten durfte. In diesem Haus habe er religiöse Gefühle, sagte er mit verklärtem Gesicht. In diesem Augenblick konnte man ihn sogar lieb haben. Doch auch jetzt prasselten Fragen nach Rossstadt 21 auf ihn ein, bis der Moderator daran erinnerte, dass es auch andere politische Themen gab.
Als Feist später aus seinem Amtssitz trat, ertönten von draußen wieder Sprechchöre „Oooben bleieieiben, ooooben bleieieiben!“ Doch dieses Mal ließ sich der Ministerpräsident nicht aus der Ruhe bringen. Er ignorierte die Rufer und schüttelte stattdessen gönnerhaft die Hände von Befürwortern des Bahnprojekts. Sein Gesicht glänzte wie eine Speckschwarte. Seine Schweinsäuglein funkelten freudig erregt.
„Ich kann Sie nur bestärken, Haltung zu bewahren im Hinblick auf Rossstadt 21“, sagte ein Mann im mittleren Alter zu ihm. „Rossstadt 21 wird ein neues Wahrzeichen für die Region“, fügte ein anderer trotzig hinzu.
Feist lächelte erfreut, drehte sich jedoch verärgert um, als er einen leichten Stich in seinem knackigen Gesäß spürte. Es war die rechte Backe, die eine sehr sensible Stelle hatte. Dort hatte ihn im Knabenalter seine unverheiratete Tante Vera oft gekniffen. Finster musterte er den stämmigen älteren Mann, der schwitzend neben einem Leibwächter stand und ihn über seine verrutschte Sonnebrille mit stechenden Augen ansah. Als aber Besucher mit Pro-Rossstadt 21-Anstecker skandierten: „Auch wir sind Rossstadt“, lächelte Feist schon wieder, nicht ahnend, dass er die Zone zwischen Leben und Tod betreten hatte. Der ältere Mann mit dem Blick einer Hornisse war vergessen.
Eine Kamera im Park hielt fest, wie der Mann langsam den Hügel hinab ging. Als er sich dem großen schmiedeeisernen Tor näherte, schob sich eine schwarze Wolke vor die Sonne, als ob sie ihn vor den Blicken der Kameras und anderer Besucher schützen wollte. Bevor er durch das schmiedeeiserne Tor ging, blickte er noch einmal den Hügel hoch zurück zur Villa. Einen Moment lang stand alles still. Das Leben war erstarrt. Dann drehte er sich um und trat auf die Straße und das Leben ging weiter.
Feist schüttelte derweil weitere Hände und ließ sich von seinen Anhängern feiern, während die Chöre der Gegner von Rossstadt 21 immer schwächer wurden und schließlich ganz verstummten.
Eine Stunde später klagte der Ministerpräsident über Unwohlsein. Er suchte die Toilette in seinem Amtszimmer auf, wo er sich übergeben musste. Dann spielte sein Blutdruck verrückt. Heftiges Fieber schüttelte ihn. Klebriger Schweiß benetzte den ganzen Körper. Das Gesicht war übersät mit Flecken, die im Wechsel blass waren oder wie reife Himbeeren leuchteten. Wenigen Minuten später wurde Feist im Notarztwagen und mit Polizeieskorte in die Wilhelm-Busch-Klinik gefahren, wo er vor ratlosen Ärzten halluzinierte.
Den schockierten Besuchern im Park der Villa erklärte ein Sprecher des Staatsministeriums, dass der Ministerpräsident eine Kreislaufschwäche erlitten habe. Nichts Dramatisches, aber zur Sicherheit würde er in der Klinik untersucht. Der stellvertretende Ministerpräsident Uli Doll werde seine Rolle als Hausherr in der Villa Hasenstein übernehmen.
Chefarzt Professor Dr. Waldemar Weiß, ein begnadeter Internest, und sein Team in der Wilhelm-Busch-Klinik versuchten fieberhaft, den Kreislauf des prominenten Patienten zu stabilisieren – ohne Erfolg. Sie standen vor einem Rätsel. Diagnosen wurden diskutiert und verworfen.
Edgar Sonntag, ein junger Assistenzarzt, der leidenschaftlich gern Spionagethriller und Fantasy-Romane las, landete den entscheidenden Treffer. „Der Ministerpräsident ist höchstwahrscheinlich vergiiiiftet worden“, stotterte er aufgeregt. „Iiich weiß das aus einem Roman von Edgar Allen Poe, und dann ist da noch die Sache mit Georgi Markow in London gewesen, der mit einem Schirm gestochen worden ist. Auf der Waterloo Bridge. Die Spitze des Schirms war vergiftet. Das ging durch die internationale Presse. Die Symptome deuteten auf eine tödliche Dosis Rizin hin. Das ist ein fürchterliches Pflanzenggggift.“
Chefarzt, Ober- und Assistenzart, Pfleger und Krankenschwestern, die ihn umringten, schauten ihn ungläubig an.
„Also, das müssen Sie mir später genau erklären“, sagte der Chefarzt zögernd. Er wusste nicht so recht, was er von dem Bericht seines Assistenzarztes halten sollte. „Nehmen Sie auf jeden Fall Kontakt mit der Giftzentrale in Freiburg auf. Schnell, schnell, was stehen Sie hier noch herum“, fauchte er den verdatterten jungen Mann an. „Lassen Sie das Gespräch in mein Zimmer durchstellen“, rief er ihm nach. „Und hören Sie auf zu stottern, verdammt noch mal.“
Wenige Minuten später brach der Kreislauf des Ministerpräsidenten völlig zusammen. Feist sank in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachen sollte. Sein Körper hatte mit der medizinischen Kunst gebrochen und wollte sich nicht mehr helfen lassen.
Langsam erfassten auch die Ärzte, dass ihr prominenter Patient im Sterben lag. Die, die es immer noch nicht begriffen hatten, erfuhren es später in einer Sitzung vom Chefarzt: Die Freiburger Giftexperten hatten bestätigt, dass es kein Gegenmittel gegen das Teufelszeug gab. Eine geringe Menge isoliertes Rizin reichte aus, um einen Erwachsenen ins Jenseits zu befördern. Resignation erfasste Besitz von ihnen.
Chefarzt Professor Weiß bekam Hitzewallungen, die ihm einen Blick in die nahe Zukunft gestatteten. In seinem Kopf liefen Bilder eines imposanten Staatsbegräbnisses ab mit Hunderten von Menschen in Beerdigungsschwarz. Bei der Trauerfeier in der Kirche saß er als Ehrengast in der ersten Reihe. Zu Recht. Denn schließlich hatte er als Chefarzt dazu beigetragen, dass diese schöne Feier überhaupt stattfinden konnte.
Inzwischen hatte sich Feists Familie am Bett versammelt, um sich selbst Trost zu spenden. Als Frau und Kinder des Ministerpräsidenten mit der bitteren Wahrheit konfrontiert wurden, brachen sie in Tränen aus.
Wenn nichts Unvorhergesehenes geschähe, werde Feists Herz spätestens in drei Tagen aufhören zu schlagen, teilte Weiß auf dem Gang dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Uli Doll mit, der inzwischen eingetroffen war.
Der Schusswaffenbesitzer und Porschefahrer jubelte innerlich. Herrlich! Seine Chance war gekommen. Er würde die Amtsgeschäfte übernehmen und endlich einmal selbst Ministerpräsident sein. Ein Riesenerfolg für die neoliberale Klientelpartei (NKP). Die Trittbrettfahrerpartei stellte sonst nur Vizes. Letztendlich war dies aber auch der schlüssige Beweis, dass die Neoliberalen über Leichen gingen.
Der ärztlichen Kunst seien Grenzen gesetzt, leider gebe es kein Gegenmittel gegen dieses tückische Pflanzengift, sagte der Chefarzt. Die Dosis, die Dr. Feist erhalten habe, sei tödlich. Er bedauere, nicht helfen zu können. Feists Schicksal liege nun in Gottes Hand.
„Ich habe lange nicht mehr gebetet, vielleicht ist das der Anlass, um es mal wieder zu versuchen“, sagte Doll scheinheilig und hoffte inständig, dass es mit Feist zu Ende ging. Der Ministerpräsident war ihm mit seiner herrischen Art manchmal ganz schön auf die Nerven gegangen. Er konnte gut und gerne ohne diesen Kerl auskommen. Als streng erzogener Katholik wusste er natürlich, dass er für seine bösen Gedanken später ins Fegefeuer verbannt werden könnte. Aber das war ihm jetzt egal. Er wollte einfach nur ein bisschen Ministerpräsident sein, komme, was da wolle.
Der Abend warf seine ersten Schatten ins Krankenzimmer und tauchte es in ein geheimnisvolles Zwielicht. Feists Zustand war unverändert. Gattin und Kinder des Ministerpräsidenten schauten in das bleiche Gesicht im Bett und fragten sich, warum es gerade den Mann und Vater getroffen hatte. Er war doch ein guter Mensch und Ministerpräsident. Er hatte sich so sehr auf dieses Amt gefreut. Außerdem wollte er noch Bundeskanzler werden. Und auf einmal sollte es mit dem Regieren vorbei sein und mit dem Glanz, der auf die ganze Familie fiel?
Wem auch immer sie ihre Fragen stellten, sie erhielten keine Antwort. Erst am späten Abend gingen sie nach Hause, nur noch geringe Hoffnung im Herzen.
Zurück blieb ein Patient, der teilnahmslos gegenüber der Hilflosigkeit der Mediziner war. Er hatte die Augen geschlossen. Die Sauerstoffmaske, die ihm der Oberarzt aufgesetzt hatte, ließ ihn wie ein Wesen aus einer anderen Welt erscheinen. Es war, als ob er mit den Gefühlen der Menschen, die ihm nahe standen, spielte. Jedenfalls nahm er sich Zeit mit dem Sterben. Erst zwei Tage später würde er aufgeben und die Reise nach oben antreten.
Der Anruf von Feists Tod überraschte den stellvertretenden Ministerpräsidenten Uli Doll beim Frühstück mit seiner Frau.
Doll presste ein „Ich danke Ihnen für die traurige Nachricht“ heraus und stürmte in die Garage, wo sein Porsche stand. Erst als er auf der Autobahn war und auf 250 beschleunigt hatte, ließ er seiner Freude freien Lauf und brüllte so laut, dass seine Stimme sogar den fetzigen Motor übertönte.
Als er wieder zu Hause war und ihn seine Frau neugierig fragte, warum er sich so freue, erwiderte er: „Ich hab’s geschafft, Liebling. Ich bin Ministerpräsident.“
„Und ich dachte schon, es wäre etwas passiert“, erwiderte diese trocken und knabberte weiter an ihrem mit Butter und Ingwermarmelade bestrichenen Brötchen, das sie aus der neuen Backmaschine gezaubert hatte.