Wer weiß schon, wie tief der Fluss unter der Brücke ist
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Im Leben des fünfjährigen Jos Klostermann war der 21. August 1947 ein besonderer Tag. Im westfälischen Lippstadt waren die Menschen damit beschäftigt, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Der Kampf um Nahrung, Kleidung und Heizmaterial bestimmte ihren Alltag. Sie trauerten um ihre Toten und sorgten sich um vermisste und gefangene Angehörige. Mehr als zwei Jahre zuvor, am 1. April 1945, waren die Spitzen der 1. und der 9. US-Armee, ohne auf Widerstand zu stoßen, in die Stadt einmarschiert und hatten hier den ‚Ruhrkessel' geschlossen. Später ging der Stab an die Briten über. Britische Armeefahrzeuge beherrschten das Straßenbild - auch noch zwei Jahre später. Kinder und Jugendliche winkten den uniformierten Männern in den Jeeps und auf den Panzern zu. Deutsche Frauen fühlten sich von britischen Soldaten angezogen.
Die Sonne versteckte sich an diesem Tag hinter einer blaugrauen Dunstglocke. Das Wasser der Lippe unter der Rhedaer Bahnbrücke floss träge dahin. Am Ufer tummelte sich eine Schar von Mädchen und Jungen. Helle Kinderstimmen schwirrten durch die Luft. Die heulenden Sirenen, die den Fliegeralarm ankündigten, das Brummen von Flugzeugmotoren, das Pfeifen herabfallender Bomben, der dumpfe Donner beim Einschlag und das Erzittern des Erdbodens, das Krachen von berstendem Beton und kreischendem Metall, der beißende Geruch brennender Fabriken, all das war vergessen. Gleichwohl waren die Geräusche und Gerüche des Krieges im Kern ihrer Seele eingeschmolzen. Sie konnten jederzeit lebendig werden - auch noch nach vielen Jahren. Dass einige Kinder schwermütig geworden waren, andere besonders wild und leicht erregbar, unter Schwindelanfällen oder Herzrasen litten, wurde hilflos hingenommen - Kriegskinder halt. Die Erwachsenen waren mit dem eigenen Leid beschäftigt. Sie hofften, die Kinder würden schnell vergessen.
Zwei Jungen rangen kichernd am Boden und versuchten, sich gegenseitig die Badehose herunterzuziehen und sprangen dann, von einem kreischenden Mädchen verfolgt, ins Wasser. Andere jagten einander johlend im Schilf oder rauften auf der angrenzenden Weide. Das Gras war saftig-grün und hatte sich dort, wo die Kühe es mit ihren Fladen gedüngt hatten, zu dicken Büscheln aufgespreizt. Aus der Ferne drang der heulende Ton einer Fabriksirene.
Als Jos Klostermann den grünen Bogen der Eisenbahnbrücke hinaufkletterte, erstarb das Geschrei am Ufer. Einige Kinder hielten den Atem an. Die flirrende Luft schien still zu stehen, als der Fünfjährige die höchste Stelle der Brücke erreicht hatte. Staunend blickte der sommersprossige Junge mit den rotblonden Haaren nach unten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wo er stand. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Er spürte, wie die Hitze des Eisens in seine nackten Füße brannte. Die Beine zitterten.
"Ich werde von der Brücke springen", hatte er noch vor wenigen Minuten mit trotziger Stimme unten am Ufer gesagt. Die Jüngeren hatten ihn ungläubig angestarrt, die Älteren überlegen gelächelt.
"Großmaul!", hatte ein Junge gerufen und ihm den Vogel gezeigt,
"Angeber!", ein anderer, und eine abfällige Handbewegung gemacht. Ewald Lassberg, der ein Jahr älter war als Jos Klostermann, hatte ihn gebeten: "Tu es nicht, Jos, das ist zu gefährlich! Da ist noch keiner von uns runtergesprungen. Niemand weiß, wie tief der Fluss unter der Brücke ist. Außerdem kannst du rückwärts auf die Schienen fallen. Nicht!"
Trotzig hatte Jos Klostermann geantwortet: "Ich springe, meinst du etwa, ich habe Angst?"
Ewald hatte verlegen zu Boden geschaut.
"Spring! Spring!", intonierte ein Chor von Jungenstimmen drängend. Aber hier oben zu stehen war etwas anderes, als sich unten am Ufer wichtig zu tun. Jos Klostermann war verwirrt. Plötzliche Angst lähmte seinen Willen. Sollte er wirklich springen? Er spürte, dass von dem dunklen, träge dahinfließenden Wasser eine Bedrohung ausging. Die kleinen Wirbel, die wie auf Geheiß eines unsichtbaren Wassergeistes auf der Oberfläche tanzten, schienen ihn wegen seiner Angst zu verspotten. Was sollte er tun? Er atmete tief ein. Und noch einmal. Plötzlich fühlte er sich frei von Angst.
"Jetzt", spornte er sich an, "jetzt werde ich springen."
Und dann sprang er wirklich in den Fluss, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, begleitet von den Schreien der anderen Kinder, die aufgeregt am Ufer der Lippe auf und ab hüpften. Er spürte den warmen Luftzug und den Aufprall eines Käfers auf der Stirn. Die Füße trafen auf das Wasser. Körpergewicht und Erdbeschleunigung drückten ihn nach unten. Er sank tiefer und tiefer, bis seine Füße weichen Schlick berührten. Als er nach oben getrieben wurde, die immer heller werdende Oberfläche vor den weit aufgerissenen Augen, frohlockte er. Er reckte den Kopf aus dem Wasser, schnappte gierig nach Luft, streckte die Arme hoch und stieß einen heiseren Schrei aus, in dem der Triumph die Angst besiegt hatte. Er hatte es geschafft. Er war gesprungen. Er hatte es allen gezeigt!
Mit wilden Schlägen das Wasser peitschend, wie er das bei den älteren Jungen gesehen hatte, versuchte er, ans Ufer zu gelangen. Keine Frage, dass ihm dies gelingen würde. Doch nach einigen Schlägen stellte er fest, dass er kaum von der Stelle kam und Mühe hatte, den Kopf über Wasser zu halten. Die Arme wurden schwerer und seine Bewegungen langsamer. Was machte er falsch? Er wechselte die Technik und begann, wie ein Hund Beine und Arme rhythmisch vor- und zurückzubewegen. Das hatte er oft im knietiefen Wasser geübt. Aber ihm fehlte der Instinkt eines Hundes. Jedenfalls bewegte er sich nicht wie ein Vierbeiner im Wasser.
Als er begriff, dass er nicht schwimmen konnte, was er stets geleugnet hatte, geriet er in Panik. Da lief etwas schief. Das Gefühl des Triumphes wich beklemmender Angst. Die Schwerkraft zog ihn wieder nach unten. Er schluckte Wasser, als er sich erneut hochschraubte und zu früh nach Luft schnappte. Er spuckte und hustete. Die Kehle begann zu schmerzen. Seine Hände versuchten, die dunkle Oberfläche nach unten zu drücken. Vergeblich.
"Er ertrinkt!", schrien einige Kinder.
"Er kann nicht schwimmen!"
Eine dunkle Ahnung streifte ihn.
"Nein", stammelte er, "nein, das darf nicht sein."
Er wollte bleiben und mit den anderen spielen, die am Ufer standen und schrien. Und er gelobte, nie wieder von einer Brücke ins Wasser zu springen.
"Lieber Schutzengel, ich verspreche es dir", flüsterte die Stimme in ihm. Derartige Gelöbnisse hatten in der Vergangenheit geholfen, ihn aus gefährlichen Situationen zu befreien. Auch damals, als er auf dem Heimweg von der Schule als Letzter einer Gruppe von Jungen vor dem herandampfenden Zug der Westfälischen Landeseisenbahn die Böschung hinuntergesprungen war. Doch schien nichts mehr zu helfen. Seine Arme waren wie mit Blei gefüllt. Schließlich hörten sie ganz auf zu schlagen. Das Wasser zog die letzte Kraft aus seinem Körper und erstickte den Atem. Es wurde dunkel um ihn. Ein großer Wirbel, hinter dem sich ein Tunnel öffnete, saugte ihn in die Tiefe. Panik und Angst verwandelten sich in ungläubiges Staunen. Die Zeit blieb stehen. Tiefe Ruhe erfüllte ihn, als er in eine strahlende, weiß-goldene Lichtwelt glitt. Dann schwebte er hoch über dem Fluss. Er blickte hinab und sah, wie sein Körper wie ein fremder Gegenstand im Fluss versank. Kein Trennungsschmerz, keine Angst, etwas zu verlieren. Er war sicher, dass er diesen Körper nicht mehr brauchte.
Doch Rudi Lassberg, Ewalds älterer Bruder, ein guter Schwimmer, dachte offensichtlich anders. Er sprang in den Fluss und holte Jos Klostermann aus seiner Lichtwelt heraus. Er schwamm mit dem leblosen Körper ans Ufer, wo er ihm schimpfend das Wasser aus der Lunge presste. Spuckend und hustend und mit Schmerzen kehrte Jos Klostermanns Selbst in den schmächtigen Körper zurück. Als er das Bewusstsein wiedererlangte, sah er Angst und Erleichterung in den Augen des älteren Jungen, der ihn gerettet hatte. Die Mutter brach in Tränen aus, als sie erfuhr, was an der Lippe geschehen war. Sie drückte ihn fest an sich. Ihre Tränen vermischten sich mit seinen. Sein Gesicht wurde ganz klebrig, was ihm gar nicht behagte. Schließlich löste er sich aus ihrer Umklammerung. Es war ihm peinlich, dass die anderen sahen, dass er weinte. Das neugierige alte Vermieterehepaar Heilmann war ebenso in den ersten Stock gekommen wie die Nachbarsfamilie Lohmann, deren Zweizimmerwohnung an die seiner Eltern grenzte. Ihre Tochter Heidi, die in seinem Alter war, starrte ihn in ihrem weißen Kleidchen an, als ob er ein Geist wäre. Aber vielleicht war sie nur von der Aura des Jenseits gefesselt, die er in das Haus Nummer 21 in der Cleveschen Straße gebracht hatte. Verschämt murmelte er, dass er jetzt sein Gesicht waschen müsse, er sei ja nicht tot und außerdem sei Rudi Lassberg jetzt sein Freund, auch wenn er ihn geohrfeigt habe. Die Mutter schluchzte noch einmal laut, und die anderen schüttelten verwundert den Kopf. Nur einer lachte: Heidis Vater, der an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen war und überhaupt oft lachte. Als Jos' Vater, ein leidenschaftlicher und strenger Schulmeister, am Abend heimkam, hörte er der Mutter schweigend zu. Als sie zu Ende erzählt hatte, sagte er nur: "Dieser wilde Junge, wo soll das nur hinführen?"
Kopfschüttelnd ging er, ohne seinen Sohn eines Blickes zu würdigen, ins Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Kein Tadel, keine Schläge. Eine ungewöhnliche Reaktion des Vaters, dessen Hosengurt im Hause Klostermann ebenso gefürchtet war wie sein Rohrstock in der Schule. In der Woche nach dem Ereignis wurden alle Kinder in der Cleveschen Straße, die nicht schwimmen konnten, zum Schwimmkurs ins städtische Freibad geschickt.
Als Jos Klostermann mit zwölf sein erstes Buch über griechische Mythologie verschlungen hatte, war er sicher, dass ihm der griechische Flussgott Asopos befohlen hatte, in die Lippe zu springen. Aber es gab auch Momente, in denen er dachte, sein Schutzengel habe ihm diesen Blick auf die Bühne des Sterbens gestattet, weil er ihn warnen wollte, nicht so wild und so ungezogen zu sein.